Römische Geschichtsschreibung im 1. Jh. n.
Chr. (Tacitus)
1. Kaiserliche Geschichtsschreibung des 1. Jh. n.
Chr. vor Tacitus
- Bevorzugte Themen: Bürgerkriege ab 44. v. Chr.,
Übergang zum Prinzipat ("Notbehelf") und der damit verbundene
moralische Niedergang (z. B. bei Lucans "Pharsalia")
- Kritik am schlechten Prinzeps (v. a. Domitian)
- Gefahr der adulatio (Schmeichelei)
- Weitere wichtige Vorläufer:
- Cluvius (wegen seiner eloquentia und Rechtschaffenheit)
- Fabius Rusticus (beschrieb Zeit Neros voll Erbitterung ® Einfluss auf
Tacitus' Beurteilung dieser Epoche)
- Plinius maior (Darstellung der Zeit bis Nero und ein Teil von Vespasians
Regierung)
Zusammenfassung deren "Historien" durch Tacitus
2. P. Cornelius Tacitus (ca. 55 n. Chr. - ca. 120.
n. Chr.)
2.1 Leben
- aus der Provinz stammend (wahrscheinlich Gallia Narbonensis
oder Gallia Cisalpina): homo novus
- Rhetorikstudium in Rom
- 78 Heirat mit Tochter des Agricola
- dank Kaiser Vespasian in der Ämterlaufbahn,
weiterer Aufstieg unter Titus und Domitian (z. B. 88 Prätor und im Priesterkollegium,
97 consul suffectus)
- Freund von Plinius minor
2.2
Werk
- De
vita et moribus Iulii Agricolae ("Agricola"):
- Gattungsmäßig schwer festzulegen, Historiographie/Monographie
mit biographischen Einlagen
- Das Werk steht unter dem Eindruck der Befreiung von der Herrschaft
des Domitian, die in eine Tyrannei ausgeartet war
- Würdigung des Wirkens von Agricola
- Proömium: Zeit steht Gutem feindlich gegenüber (Kap. 1);Unterdrückung,
geistige Inquisition (durch Domitian, Kap. 2); unter Nerva jetzt Möglichkeit
zum Umschwung (Kap. 3)
- Beschreibung Britanniens: Calgacus-Rede
- Römer sind raptores orbes und bezeichnen die entstandene Leere
als pax Romana (Kritik am römischen Imperialismus)
- Kämpfe (z. B. Britannien, Germanien) sind aber generell gut, weil
durch sie virtus sichtbar wird
- Niedergang der virtus ist für Tacitus Verlust an Freiheit;
- De origine et situ Germanorum
("Germania"):
- Interesse der Römer an angrenzenden Völkern
(Kaiser Trajan hielt sich zur Entstehungszeit am germanischen Limes auf)
- Bericht über germanisches Leben und über
die einzelnen Stämme, "Ethnographie"
- Römer als Vorbilder für Germanen
- Dialogus de oratoribus:
- Thema: Verfall der Redekunst seit der Republik
- Historiae ("Historien"):
- Wenig erhalten
- Schauplatz größtenteils außerhalb
Roms
- Umfasst die Zeit ab Neros Tod (68 n. Chr.) bis
zum Ende der Herrschaft Domitians (96 n. Chr.) (annalistische Zeitgeschichte)
- Annales ("Ab excessu
divi Augusti", "Annalen"):
- Augenmerk auf stadtrömische Geschichte
- Aufzeigen von bona et mala exempla
- Darstellung von inneren Zusammenhängen sine
ira et studio
- Umfasst die Zeit des Prinzipats des Tiberius
bis zu Nero
- Annales bilden mit Historiae eine Einheit: Hexadenstruktur
2.3
Stil
- Kurze, konzentrierte Sätze: brevitas
- inconcinnitas (Vermeidung des parallelen Ausdrucks)
- Antithesen, Asyndeta, Sentenzen
- Übernahme von Ausdrücken und Satzgefügen
der Dichtung
- Stärkste Ausprägung des Stils in den Annales:
letzter Höhepunkt der römischen Kunstprosa
2.4
Geschichtsbild
- Darstellung des moralischen Verfalls (schon
im 5. Jh. v. Chr. begann für Tacitus der moralische Verfall!), von Zwietracht,
heuchlerischer Verstellung und Furcht aller vor allen überwiegt
- tiefer Pessimismus
- Zentrale Rolle für Tacitus' Denken: libertas
- Zur Zeit der Republik war der Freiheitsbegriff von
den Idealen der Nobilität und ihren Herrschaftsinteressen geprägt;
Gegenbegriffe zu "libertas" sind "regnum" oder "factio"
(Tyrannei einer politischen Clique), welche das Mächtegleichgewicht innerhalb
der Nobilitätsfamilien beseitigt hätten
- Zur Zeit des Prinzipats verstand man unter "libertas"
die durch den Prinzeps gewährleistete Ordnung und Sicherheit ("securitas");
Gegenbegriffe dazu sind Unterdrückung und Willkür
- Tacitus geht noch weiter: "libertas" ist
eine innere Unabhängigkeit und geistige Freiheit, die (bei Senatoren)
durch freie Meinungsäußerung und Diskussion verwirklicht werden
kann (Vgl. dazu "Agricola" 3,1: Es besteht unter Nerva wieder Möglichkeit
zur freien Meinungsäußerung; man muss den Herrscher nicht mehr
fürchten oder sich selbst erniedrigen)
- In Historien/Annalen: Mann mit eigener Meinung, moralischem
Rückgrat und innerer Festigkeit ist zum Scheitern verurteilt
- Tacitus leidet (wie Sallust) an der Geschichte Roms,
fühlt sich als Römer schuldig (vgl. Calgacus-Rede); seine innere
Größe besteht darin, dass er dennoch an den "virtutes maiorum"
festhält, obwohl er vom Untergang überzeugt ist
2.5 Beurteilung
- Tacitus schafft eine Einheit von literarisch-künstlerischer
Darstellung und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung
- Größe seiner Geschichtsschreibung: Darstellung
von Hintergründen, tieferen Zusammenhängen, vielfältigen gegenseitigen
Bedingtheiten historischer Vorgänge und Abläufe
- Gefahr der einseitigen und verzerrenden Darstellung,
weil durch moralische und persönliche Wertungen der politische Aspekt
zu kurz kommt
- Der historische Quellenwert ist zu prüfen
- Tacitus bemühte sich um historische Objektivität;
er sieht seine Aufgabe selbst als inglorius labor wegen dem "corruptissimum
saeculum"
Tacitus erzählt
geschichtliche Zusammenhänge als Psychologe und Politologe
2.6 Nachwirkung
- Ammianus Marcellinus (im 4. Jh., aber wenig
bekannt)
- "Germania" fördert Bildung eines
deutschen Nationalgefühls
- heute: Augenmerk auf die psychologischen Charakteranalysen
des Tacitus
Vielen Dank an dieser Stelle Sabine Maier für den
superumfassenden Einblick in Tacitus' Leben und Werk