CICEROS "DE NATURA DEORUM"

Sachliche Begründung des Themas (1, 1-5)

(1) Wenn auch in der Philosophie immer noch viele Themen keinesfalls ausreichend erklärt sind, so ist doch, wie du sehr wohl weißt, mein Brutus, der Problemkreis über das Wesen der Götter sehr schwer und rätselhaft, der im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis überaus wertvoll und für die rechte Götterverehrung sehr schön ist. In dieser Frage vertreten die gelehrtesten Männer so unterschiedliche und einander widersprechende Positionen, daß dies als schlagender Beweis gelten muss, dass der Grund und der Ursprung der Philosophie die Unwissenheit war und dass die Akademiker klugerweise sich im Urteil über ungewisse Dinge zurückhielten. Was nämlich ist eine größere Schande als ein vorschnelles Urteil oder was ist so unüberlegt und für den Ernst und die Konsequenz eines Philosophen so unwürdig, als eine falsche Meinung zu haben oder etwas, das man nicht hinreichend geprüft verstanden und erfasst hat, ohne irgendeinen Zweifel zu verteidigen?

(2) Bei unserem Thema bejahten z.B. die meisten Philosophen die Existenz von Göttern, was ja auch höchst wahrscheinlich ist wohin wir unter Führung des natürlichen Empfindens kommen, Protagoras sagte, er zweifle, Diagoras von Melos und Theodoros von Kyrene glaubten, es gebe gar keine Götter. Diejenigen aber, welche auf der Existenz von Göttern bestanden, vertreten so verschieden- artige und widersprüchliche Ansichten, dass deren Meinungen aufzuzählen unendlich wäre.
Denn über die Gestalt der Götter, ihren Aufenthaltsort und Wohnsitz und über ihre Lebensweise sagt man viel, und darüber herrscht bei den Philosophen ein erbitterter Meinungsstreit; was jedoch das Kernproblem bildet, nämlich ob sie nichts tun, nichts bewirken und frei von jeder Leitung und Verwaltung des Weltgeschehens sind, oder ob im Gegenteil alles von Beginn an von ihnen geschaffen und verwaltet wird und in alle Ewigkeit gelenkt wird und bewegt wird, darüber ist man zutiefst uneins, und wenn diese Frage nicht entschieden wird, befinden sich die Menschen notwendigerweise im Zustand völliger Ungewißheit und in Unkenntnis all dessen, was wesentlich ist.

(3) Es gibt und gab freilich Philosophen, die meinten, die Götter kümmerten sich überhaupt nicht um die menschlichen Geschicke. Wenn aber deren Ansicht zutrifft, wie können dann noch Frömmigkeit, Ehrfurcht und Religiosität bestehen? All das nämlich kann man der Macht der Götter ja nur dann lauter und rein entgegenbringen, wenn sie es auch zur Kenntnis nehmen und wenn die Menschen den unsterblichen Göttern etwas zu verdanken haben. Falls uns die Götter jedoch weder helfen können noch wollen, falls sie sich überhaupt nicht um uns kümmern, unser Tun und Treiben nicht beachten und es nichts gibt, was von ihnen auf das Leben der Menschen einwirken kann, welchen Grund gibt es, dass wir den unsterblichen Göttern irgendwelche Kulte, Riten und Gebete widmen? Im Trugbild des Scheins aber kann Frömmigkeit ebensowenig wie die übrigen Tugenden sein; mit ihr zusammen ist es notwendig, dass zugleich Ehrfurcht und Religiosität entfernt werden, und deren Verlust hat eine massive Beunruhigung und Orientierungslosigkeit des Lebens zur Folge;

(4) und ich weiß nicht, ob nach dem Verlust der Bindung an die Götter auch Treue und das Gemeinschaftsgefühl der Menschen und die eine, alles überragende Tugend, nämlich die Gerechtigkeit entfernt werden. Es gibt aber andere Philosophen, und zwar bedeutende und namhafte, welche der Meinung sind, dass die ganze Weit durch göttlichen Geist und göttliche Ahnung gelenkt und bestimmt wird, und nicht nur das, sondern die Götter sorgten und kümmerten sich auch um das Leben der Menschen; sie glauben, daß die Früchte des Feldes und alles, was die Erde noch hervorbringt, die Witterung, der Wechsel der Jahreszeiten und die Veränderungen am Himmel, wodurch alles, was die Erde hervorbringt, wächst und reift, den Menschen von den unsterblichen Göttern zugeteilt wurde; und sie stellen viele Belege zusammen, was in diesen Büchern noch gesagt wird, die fast den Eindruck erwecken, die unsterblichen Götter hätten anscheinend diese Gaben zum Nutzen der Menschen geschaffen. Gegen diese brachte Carneades so viel vor, dass er in den Menschen, sofern sie nicht träge waren, den Wunsch hervorrief, nach der Wahrheit zu suchen.

(5) Es gibt nämlich kein Thema, bei dem nicht nur die Laien, sondern auch die Fachleute so gegensätzlicher Meinung sind. Weil ihre Ansichten so vielfältig und einander so widersprüchlich sind, kann es sich tatsächlich zum einen herausstellen, daß keine davon die richtige ist, andererseits ist es gewiß unmöglich, dass mehr als eine wahr ist. Bei dieser Streitfrage nun bin ich in der Lage, wohlwollende Tadler zu beschwichtigen und böswillige Kritiker zu widerlegen, so dass die einen ihre Vorwürfe bereuen und die anderen sich über ihre neuen Erkenntnisse freuen werden; denn freundliche Ermahner muss man aufklären, missgünstige Angreifer zurückweisen.