PLINIUS' BRIEFE

Epistula VI, XX


(1) Du sagst, du seist durch den Brief, den ich dir auf deinen Wunsch über den Tod meines Onkels geschrieben habe, veranlasst worden, wissen zu wollen, nicht nur welche Furcht, sonder auch noch was für Ereignisse ich, als ich in Misenum zurückgeblieben war (das nämlich hatte ich nach kurzem Anriss abgebrochen) ertragen hätte. "Obwohl mein Geist sich streubt, daran zu erinnern, werde ich anfangen."

(2) Nachdem mein Onkel aufgebrochen war, verwandte ich selbst die übrige Zeit mit Studiuen (deswegen war ich ja zurückgeblieben); bald ein Bad, eine Mahlzeit und ein unruhiger, kurzer Schlaf.

(3) Durch viele Tage hindurch waren Erdbeben vorausgegangen, weniger fürchterlich, weil man sie in Campanien gewohnt ist; in jener Nacht aber hatten sie so zugenommen, dass man glaubte, alles gerate nicht nur in Bewegung, sonder völlig durcheinander.

(4) Meine Mutter stürzte in mein Schlafgemach; ich hingegen wollte gerade aufstehen, um sie aufzuwecken, wenn sie ruhen sollte. Wir setzten uns in den Hof des Hauses, der das Meer von den Häusern durch einen geringen Abstand trennte.

(5) Ich zögere, ob ich es Gelassenheit oder Leichtsinn nennen muss (denn ich war erst 18): ich fordere das Buch des Titus Livius und geradezu müßig lese ich und exzerpiere auch, wie ich begonnen hatte. Siehe, ein Freund meines Onkels, der neulich zu ihm aus Spanien gekommen war, sobald er mich und die Mutter sitzen, mich aber auch noch lesen sieht, tadelt er ihre Geduld und meine Sorglosigkeit. Genauso eifrig blieb ich bei meinem Buch.

(6) Schon war es die erste Tagesstunde (ich denke es ist 7 Uhr morgens...) und bis jetzt war der Tag zweifelhaft und sozusagen verschlafen. Nachdem bereits die umherliegenden Häuser erschüttert worden waren, war die Furcht vor einem Einsturz, obwohl wir auf einem offenen, aber dennoch engen Platz waren, groß und gewiss.

(7) Da sieht man endlich ein, die Stadt zu verlassen. Es folgt eine entsetzte Menge und was im Zustand der Angst der Klugheit ähnlich ist, zieht sie den fremden Plan ihrem eigenen vor und drückt und schiebt in einer ungeheuren Schar die Vorangehenden an.

(8) Wir stehen draußen, nachdem wir die Häuser verlassen haben. Dort erleiden wir viel Wundersames und viele Schrecken. Denn die Fahrzeuge, die wir vorzufahren befohlen hatten, wurden, obwohl sie auf einem sehr ebenen Feld waren, in die entgegengesetzten Richtungen getrieben und sie blieben nicht einmal am selben Platz, wenn man ihnen Steine unterlegte.

(9) Außerdem sahen wir, dass das Meer zurückgesaugt und durch das Erdbeben gleichsam zurückgeschoben wurde. Gewiss war der Strand vorgerückt, und viele Meerestiere hielt er auf seinem trockenen Sand zurück. Von der anderen Seite tat sich eine schwarze und schreckliche Wolke, vom Feuerhauch in sich verdreht bewegte Bahnen gerissen, in lange Flammenfiguren auf. Diese waren Blitzen gleich, aber größer.

(10) Da aber sagte jener Freund aus Spanien das gleiche. nur schärfer und mit ziemlichem Nachdruck: "Wenn dein Bruder, wenn dein Onkel lebt, will er, dass ihr wohlbehalten seid; wenn er gestorben ist, will er, dass ihr überlebt hat. Was zögert ihr daher, zu verschwinden?" Wir antworteten, dass wir uns nicht entscheiden könnten, dass wir nicht an unser Heil denken könnten, solange wir über das Seinige im Unsicheren waren.

(11) Da hielt er sich nicht mehr länger auf, stürzte davon und rennt in schnellem Lauf aus der Gefahr. Nicht viel später steigt jene Wolke auf Bodennähe herab, bedeckte die Meere; sie hatte Capri verborgen und verhüllt, und das hervorspringende (Kap) Misenum verschwinden lassen.

(12) Da bat, ermahnte, befahl die Mutter mir, ich solle auf welche Weise auch immer fliehen. Ich als Jüngling vermochte es, sie, die von den Jahren und den Körper schwach sei, werde wohl sterben, wenn sie nicht die Ursache für meinen Tod wäre. Ich dagegen sagte, ich wollte nicht leben, wenn ich alleine sei; dann zwinge ich sie, nachdem ich ihre Hand ergriff, ihren Lauf zu beschleunigen. Sie gehorcht nur mit Mühe und beschuldigt sich, weil sie mich aufhalte.

(13) Schon fiel Asche, bis jetzt noch wenig. Ich blicke zurück: von hinten drohte dichter Qualm, der uns nach Art eines Wildbaches über den Boden fließend folgte. "Lasst uns abbiegen, solange wir noch sehen können, damit wir nicht, wenn auf der Straße hingefallen sind, von der Menge der nachfolgenden Menschen in der Dunkelheit erdrückt werden."

(14) Kaum überlegen wir das, ist es auch schon Nacht, nicht wie eine mondlose oder wolkenverhangene Nacht, sondern wie eine Nacht, wie wenn das Licht in einem geschlossenen Raum ausgelöscht worden ist. Man hörte das Geheul von Frauen, das Jammern von Kindern, das Schreien von Männern; die einen riefen nach den Eltern, andere nach den Kindern, andere nach den Ehemännern und versuchten, sie an den Stimmen zu erkennen; diese beklagen ihr Unglück, jene das ihrer Angehörigen; es gab Leute, die aus Furcht vor dem Tod den Tod wünschten;

(15) Viele hoben die Hände zu den Göttern, andere deuteten, es gäbe nirgends mehr welche, und jene Nacht sei ewig und die allerletzte für die Welt. Und es fehlten auch keine Leute, die durch Erdichten und Erlügen von Schrecken die echten Gefahren förderten. Es waren Leute da, die meldeten, in Misenum sei das eine eingestürzt, das andere stünde in Flammen; es war falsch, aber man glaubte es.

(16) Es wurde wieder ein wenig hell, was uns aber nicht Tag zu sein schien, sondern ein Zeichen für ein ankommendes Feuer. Das Feuer blieb in einiger Entfernung stehen; wieder Dunkelheit, wieder Asche, viel und schwer. Diese schüttelten wir immer wieder ab, indem wir immer wieder aufstanden; ansonsten wären wir davon bedeckt und auch von dem Gewicht erdrückt worden.

(17) Ich könnte mich rühmen, dass mir in so großen Gefahren kein Seufzer, kein zu unmutiges Wort entkommen ist, wenn ich nicht geglaubt hätte, ich mit allem, alles mit mir zugrunde zu gehen. Ein armer, aber dennoch großer Trost.

(18) Endlich wurde jener Qualm schwächer und löste sich gleichsam in Rauch und Nebel auf; bald kam der echte Tag; auch die Sonne leuchtete hervor, dennoch blassgelb wie man es bei einer Sonnenfinsternis gewohnt ist. Den immer noch Zitternden zeigt sich alles verändert und mit einer hohen Ascheschicht wie vin SChnee bedeckt.

(19) Nach Misenum zurückgekehrt, verbrachten wir, nachdem wir uns so gut es ging um unsere Körper gekümmert hatten, eine ungewisse und zweifelhafte Nacht in Hoffnung und Furcht. Die Furcht überwog; denn das Erdbeben hielt an und die meisten, die von den schrecklichen Weissagungen verrückt gemacht worden waren, trieben Scherz mit ihrem und fremden Unglück.

(20) Nicht einmal dann hatten wir die Absicht, wegzugehen, obwohl wir die Gefahr sowohl erlebt hatten als auch erwarteten, bis ein Bote vom Onkel kam. Dies ist aber eines Geschichtswerkes nicht würdig und du wirst es lesen, aber nicht, um darüber zu schreiben. Und du wirst es dir vielleicht zuschreiben, da du es gefordert hast, wenn es dir nicht einmal eines Briefes würdig scheint. Leb wohl.

Messy am 19. 5. 2001