CICEROS "DE NATURA DEORUM"

Anlass und Situation des Gesprächs

(15) Dies ist mir schon zu anderer Zeit aufgefallen, besonders aber, als bei meinem Freund C. Cotta sehr gewissenhaft und gründlich über die unsterblichen Götter diskutiert wurde. Denn als ich auf seine persönliche Bitte und Einladung hin an den Latinischen Feiertagen zu ihm kam, traf ich ihn in der Exedra sitzend an, als er sich gerade mit dem Senator C. Velleius, dem die Epikureer seinerzeit die führende Rolle unter unseren Landsleuten zuerkannten, unterhielt. Ebenso war auch Q. Lucilius Balbus, der in der stoischen Lehre so große Fortschritte gemacht hatte, dass er mit den auf diesem Gebiet griechischen Koryphäen verglichen wurde.
Sobald er mich gesehen hatte, sagte er. "Du kommst genau im rechten Moment; denn zwischen Velleius und mir erhebt sich gerade in einer wichtigen Sache ein Streit, an dem Du angesichts deines Eifers ruhig teilnehmen solltest.

(16) "Offensichtlich bin ich, wie Du sagst, im rechten Moment gekommen. Mit euch sind hier ja die führenden Vertreter dreier Schulen zusammengekommen Wenn auch noch Marcus Piso da wäre, wäre kein Platz einer philosophischen Richtung frei, jedenfalls derer nicht, die anerkannt sind."
Da sagte Cotta "Falls das Buch unseres Antiochos, das von ihm erst kürzlich dem Balbus hier geschickt wurde, Wahres spricht, gibt es keinen Grund, dass Du Deinen Freund Piso vermisst;
Nach Antiochos' Meinung stimmen nämlich anscheinend die Stoiker mit den Peripatetikern überein, weichen aber nur im Ausdruck voneinander ab. Ich möchte gerne wissen, mein Balbus, was du von diesem Buche hältst."
"Ich?" antwortete er. "Mich wundert, dass Antiochos, ein besonders scharfsinniger Mensch, nicht gesehen hat, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt, zwischen den Stoikern, die das moralisch Gute nicht nur dem Namen nach, sondern auch qualitativ von den äußeren Gütern trennen, und den Peripatetikern, die das moralisch Gute mit dem Nutzen so vermischen, dass sie dies untereinander nach dem Ausmaß und gleichsam stufenweise, nicht aber nach dem Wesen unterscheiden.
Dies ist freilich kein unbedeutender Streit um Worte, sondern ein ganz erheblicher um die Sache. Das aber ein andermal. Nun lasst uns da weitermachen, wo wir angefangen haben, wenn´s recht ist."

(17) "Mir ist es recht", sagte Cotta. Mich betrachtend fuhr er fort: "Aber damit unser Gast weiß, um was es überhaupt geht: über das Wesen der Götter wollte ich mich eben bei Velleius nach der Meinung Epikurs erkundigen, weil es mir wie immer sehr rätselhaft erschien. Deswegen, Velleius", sagte er, "wiederhole, was Du eben angefangen hast, wenn es nicht lästig ist."
"Gewiss, auch wenn unser Gast nicht zu meiner, sondern zu deiner Unterstützung gekommen ist;" er lächelte und sagte: "Ihr beide habt ja vom selben Philon gelernt, nichts genau zu wissen."
Da sagte ich: "Was wir gelernt haben, mag Cotta sehen, glaube aber nicht, dass ich nur zu seiner Unterstützung gekommen bin, sondern als Zuhörer, und zwar als ein unparteiischer, frei von irgendeinem Urteil, an keinerlei derartigen Zwang unterworfen, dass ich wohl oder übel eine sichere Meinung vertreten muss."