TITUS LIVIUS.' "AB URBE CONDITA".
Lucretia (1,58f.)
Wenige
Tage später kam Sextus Tarquinius ohne Wissen des Collatinus zusammen mit
einem Begleiter nach Collatia. Sobald er wohlwollend von denen, die keine Ahnung
von seinem Plan hatten, aufgenommen und nach dem Essen ins Gästeschlafzimmer
geführt worden war, kam er, nachdem alles ringsum sicher genug und alle
eingeschlafen schienen, vor Liebe brennend mit gezücktem Schwert zu Lucretia
und sprach, nach dem er die Brust der Frau mit der linken Hand heruntergedrückt
hatte:: "Schweig, Lucretia. Ich bin Sextus Tarquinius; in meiner Hand ist
ein Schwert; du wirst sterben, wenn du auch nur einen Laut von dir gibst."
Als die Frau erschrocken aus dem Schlaf hochfahrend keine Hilfe, sondern den
beinahe drohenden Tod sah, da gesteht Tarquinius seine Liebe, bittet, mischt
den Bitten auch Drohungen zu und bearbeitet den Willen der Frau in alle Richtungen.
Als er sah, dass sie unnachgiebig blieb und nicht einmal durch Todesfurcht ins
Schwanken geriet, fügt er zur Furcht die Schande: Er erzählt, dass
er zu ihrer Leiche einen nackten ermordeten Sklaven legen werde, damit man sagt,
sie sei bei schändlichem Ehebruch getötet worden. Als die siegreiche
sexuelle Gier ihre beharrliche Sittsamkeit durch diesen Schrecken wie durch
Gewalt besiegt hatte und der wilde Tarquinius hinterher, nachdem ihre Ehre bezwungen
worden war, aufbrach, schickt Lucretia, betrübt über ein so großes
Übel, denselben Boten nach Rom zu ihrem Vater und ihrem Mann Adreas, damit
sie zusammen mit je einem vertrauenswürdigen Freund zu ihr kommen; in dieser
Lage sei ein schnelles Handeln nötig; eine schreckliche Sache sei passiert.
Spurius Lucretius kommt mit Publius Valerius, dem Sohn des Volesus, Collatinus
mit Lucius Iunius Brutus, mit dem zusammen er zufällig bei der Rückkehr
nach Rom vom Boten der Frau angetroffen wurde. Sie finden Lucretia, wie sie
betrübt in ihrem Schlafzimmer sitzt.
Durch die Ankunft ihrer Angehörigen brachen ihr die Tränen hervor,
und dem Ehemann, der sie fragte, ob es ihr gut gehe, antwortete sie: "Keineswegs.
Wie kann es einer Frau gutgehen, wenn ihre Sittsamkeit verloren gegangen ist?
Die Spuren eines fremden Mannes, Collatinus, sind in deinem Bett; jedoch ist
nur der Körper geschändet, der Geist ist rein; der Tod wird Zeuge
dafür sein. Aber gebt eure rechten Hände und versprecht mir, dass
dies dem Ehebrecher nicht straflos durchgehen wird. Es ist Sextus Tarquinius,
der als Feind anstatt eines Gastes vorige Nacht mit Gewalt bewaffnet mir und
sich, wenn ihr Männer seid, ein Verderben bringendes Vergnügen gestohlen
hat." Alle geben der Reihe nach ihr Wort; sie trösten die im Geist
kummervolle [Lucretia], indem sie die Schuld von ihr, die [zu dieser Untat]
gezwungen worden war auf den Urheber des Vergehens abwenden: Der Geist sündige,
nicht der Körper, und dort, wo eine Absicht gefehlt habe, fehle auch die
Schuld. "Ihr", sagte sie, "sollt zusehen, was jenem geschuldet
wird (=was für eine Strafe jener verdient): Auch wenn ich mich von der
Sünde freispreche, befreie ich mich nicht von der Strafe; und dann wird
keine unkeusche Frau [jemals] unter Berufung auf das Beispiel der Lucretia weiterleben."
Und sie stößt sich das Messer, das sie unter dem Gewand verborgen
hatte, in ihr Herz, und auf die Wunde vornübergesunken bricht sie sterbend
zusammen. Der Ehemann und der Vater schreien laut auf.
29.10.2013