LIVIUS' "AB URBE CONDITA"
Das Streben der Plebs um "libertas" (2, 23-24)
(2, 23)
(1) Sowohl der Krieg gegen die Volscer drohte, als auch
brannte die Bürgerschaft in sich selbst gepalten vor innerem Haß
zwischen Patriziern und den Plebejern, besonders wegen der Schuldknechte.
(2) Sie waren empört darüber, dass die, die draußen für
Freiheit und Macht kämpften, zuhause von den Bürgern gefangen und
unterdrückt worden wären und dass sie im Krieg geschützter als
im Frieden seien. Ebenso so sei die Freiheit des Volkes unter den Feinden sicherer
als unter den Bürgern; Und die Verbitterung darüber, der von selbst
anwuchs, entbrannte das kennzeichnende Unglück eines einzelnen:
(3) Ein alter Mann warf sich mit den Zeichen all seiner Übel auf das Forum.
Die Kleidung war voll von Schmutz, noch schlimmer war der Zustand seines Körpers,
der durch Blässe und Magerkeit entstellt war;
(4) Außerdem hatten ein lang herabhängender Bart und Haare die Gestalt
des Gesichtes wild erscheinen lassen. Dennoch wurde er in einer so großen
Entstellng erkannt, und man sagte, dass er militärische Abteilungen geleitet
habe und man erwähnte andere militärische Auszeichnungen, wobei sie
ihn allgemein bedauerten; er selbst zeigte als Zeugnis für ehrenhafte Kämpfe
einige Narben auf der zugewandten Brust.
(5) Denen, die fragten, woher dieser Zustand, woher diese Unstalt sei, sagte
er, als die Menge wie bei einer Volksversammlung zusammengeströmt war,
dass während als Soldat im Sabiner Krieg gewesen sei, Schulden gemacht
habe, weil er nicht nur wegen der Verwüstung des Ackers nichts geerntet
hatte, sondern auch sein Landhaus angezündet worden, alles geplündert
und das Vieh weggeführt und die Kriegssteuer zu einer für ihn ungerechten
Zeit gefordert worden sei.
(6) Ihr Anwachsen durch Zinsen habe ihn zuerst vom väterlichen und ererbten
Acker getrennt, dann vom anderen Hab und Gut; zuletzt habe es sich selbst auf
seinen eigenen Körper wie eine Pest ausgewirkt;
(7) er sei vom Gläubiger nicht in die Sklaverei, sondern in die Arbeitskaserne
und Folter geführt worden. Hierauf zeigte er seinen Rücken, entstellt
durch frische Spuren von Schlägen. Als dies gesehen und gehört wurde,
bricht ungeheures Geschrei aus.
(8) Der Aufstand beschränkt sich nicht nur aufs Forum, sondern breitete
sich überall in der ganzen Stadt aus. Schuldner -mit und ohne Fesseln-
stürzen von allen Seiten in die Öffentlichkeit und erflehten den Schutz
der Quiriten. An keinem Ort fehlte ein freiwilliger Begleiter des Aufstandes;
sternförmig läuft man von überall her mit Geschrei durch alle
Straßen auf das Forum.
(9) Mit großer persönlicher Gefahr gelangten diejenigen der Patrizier,
die zufällig auf dem Forum waren, in diese Menge;
(10) und man hätte sich nicht der Handgreiflichkeiten enthalten, wenn die
Konsulen Publius Servilius und App. Claudius nicht eilig dazwischengekommen
wären, um den Zwist zu schlichten. Doch die Menge, die zu diesen gewendet
war, zeigte ihre Fesseln und andere Verunstaltung.
(11) Sie sagte, dass sie DIES verdient habe, wobei jeder seinen Militärdienst
vorwurfsvoll erwähnte, den der eine hier, der andere dort geleistet hatte;
sie forderten viel mehr drohend als demütig bittend, den Senat einzuberufen;
und sie umgaben selbst als zukünftige Richter und Leiter der öffentlichen
Ratsversammlung die Kurie.
(12) Wenige der Patrizier, die der Vorfall hergebracht hatte, wurden von den
Konsuln zusammengeführt: die Übrigen hielt die Furcht nicht nur von
der Kurie, sondern auch vom Forum ab, und man konnte nichts im Senat durch die
Beschlussunfähigkeit verhandeln.
(13) Dann aber glaubte die Menge, daß mit ihr ein Spiel gestrieben und
sie hingehalten wird, und dass die von den Patriziern, die abwesend waren, nicht
durch Zufall und nicht aus Furcht, sondern um die Sache zu verhindern, abwesend
sind, und dass die Konsuln selbst Ausflüchte machen und ihr Elend zweifellos
verhöhnt werde.
(14) Es wäre fast soweit gekommen, dass nicht einmal die Hoheit der Konsuln
den Zorn der Menschen zügeln konnte, als die Senatoren unsicher, ob sie
sich durch Verweilen oder durch Kommen mehr Gefahr zuzögen, endlich in
den Senat kommen.
(15) Appius, ein Mann von stürmischer Natur, meinte, die Sache solle mit
konsularischer Macht gelöst werden; nachdem der eine oder andere verhaftet
worden sei, würden die anderen zur Ruhe kommen: Servilius, für gemäßigte
Mittel zugänglicher, glaubte, dass es sowohl sicherer als auch besonders
leichter sei, die erregten Herzen eher umzustimmen als zu brechen.
(2, 24)
(1) Da kam ein anderer größerer Schrecken dazwischen: Latinische
Reiter eilen mit der beunruhigenden Meldung herbei, dass die Volsker mit einem
kampfbereiten Heer zur Einnahme der Stadt komme. Diese Nachricht beeinflusste
die Patres bei weitem anders als die Plebs- so sehr hatte die Zwietracht aus
einem Staat zwei gemacht.
(2) Die Plebs tanzte vor Freude; sie sagten, ihrer Meinung nach seien die Götter
als Rächer für den Hochmut der Patres da; der eine bestärkte
den anderen, sich nicht zum Kriegsdienst zu melden; man wolle lieber mit allen
als allein zugrunde gehen; sollten doch die Patres Kriegsdienst leisten, sollten
doch die Patres zu den Waffen greifen, damit die, die im Besitz der Belohnungen,
auch im Bestiz der Gefahren des Krieges seien.
(3) Aber im Gegensatz dazu bat die Kurie, betrübt und zitternd in zweifacher
Furcht vor dem Bürger und dem Feind, den Konsul Servilius, dessen Gesinnung
beim Volk beliebter war, dass er den Staat, der von solch großen Schrecken
umgeben war, befreie.
(4) Dann tritt der Konsul, nachdem er vom Senat geschickt worden ist, auf der
Volksversammlung auf. Dort zeigt er, dass es den Patres ein Anliegen sei, dass
man sich um das Volk kümmere; im übrigen sei der Überlegung über
den zwar größten Teil des Staates, aber dennoch nur einen Teil davon
die Furcht um den gesamten Staat dazwischengekommen;
(5) und nichts könne dem Krieg vorgezogen werden, wenn die Feinde beinahe
vor den Toren stünden,
(6) Der Versammlung gab er darauf eine Zusicherung mit der Verfügung, in
der er sagte, dass keiner einen Römischen Bürger gefesselt oder eingesperrt
halten dürfe, damit ihm die Möglichkeit nicht genommen werde, bei
den Konsulen sich zum Kriegsdienst zu melden, und dass keiner die Güter
eines Soldaten besitzen oder verkaufen soll, solange er im Lager sei, oder seine
Kinder oder Enkel als Pfand zurückbehalte.
(7) Nachdem diese Verfügung in Aussicht gestellt worden war, meldeten sich
die Schuldknechte, die da waren, sofort zum Kriegsdienst und überall aus
der ganzen Stadt entstand ein Zusammenlauf von Menschen, die aus dem Haus stürzten
auf das Forum, weil der Gläubiger kein Recht mehr hatte, sie zurückzuhalten,
um den Fahneneid zu leisten.
(8) Diese Schar war groß, und nicht strahlte im Volskerkrieg die Tapferkeit
und die Mühe der anderen mehr.