SENECA "De clementia"

Über den Kaiser Augustus (I, 9)

Der göttliche Augustus war ein milder Prinzeps, wenn man (irgendjemand) jenen von seinem Prinzipat an zu beurteilen beginnt; in der Teilhabe am Staat zückte er freilich sein Schwert. Als er in diesem (Alter) war, in dem du nun bist, also das achtzehnte Lebensjahr hinter sich gelassen, hatte er bereits Dolche in die Brust seiner Freunde versenkt, schon in einem Hinterhalt auf die Seite des Konsuls Marcus Antonius abgezielt, schon ein Kollege eines Proscriptors gewesen. Aber hals der das vierzigste Jahr durchschritten hatte und sich in Gallien aufhielt, wurde ihm die Anzeige gemeldet, dass L. Cinna, ein Mann von tölpelhaftem Charakter, ihm einen Hinterhalt plane; es wurde gesagt, wo, wann und wie er angreifen wolle; denn einer von den Mitwissern hat es verraten. Augustus beschloss, sich an ihm zu rächen und befahl, dass eine Beratung seiner Freunde einberufen werde. Für jenen war es eine unruhige Nacht, da er darüber nachdachte, dass ein adliger junger Mann, der von dieser Tat abgesehen untadelig war, ein Nachfahre von Gnaeus Pompeius, verurteilt werden müsse; er konnte bereits nicht einen einzigen Menschen töten, dem Markus Antonius während einer Speise das Edikt seiner Proskription diktiert hatte. Er stieß immer wieder seufzend unterschiedliche und sich widersprechende Äußerungen aus: "Was also? Soll ich zulassen, dass mein Mörder sorglos umherspaziert, während ich beunruhigt bin? Er wird also nicht bestraft werden, der beschließt, mein Haupt, nach dem in so vielen Bürgerkriegen umsonst getrachtet wurde, das in so vielen See- und Landschlachten unversehrt blieb, nicht zu töten, sondern, nachdem zu Erde und zu Wasser von mir Frieden geschaffen worden war, zu opfern?" (Denn man hatte beschlossen, ihn beim Opfern anzugreifen). Nachdem wieder Stille dazwischen geschoben worden war, zürnte Augustus mit viel lauterer Stimme eher sich selbst als dem Cinna: "Was lebst du, wenn es für so viele wichtig ist, dass zu zugrunde gehst? Was wird das Ende der Hinrichtungen sein? Was das des Blutvergießens? Ich bin für die adligen Jünglinge das Haupt auf dem Präsentierteller, gegen das sie ihre Dolche schärfen. Ist mein Leben nicht so viel wert, wenn so viel zugrunde gerichtet werden muss, sodass ich nicht sterbe." Da unterbrach ihn endlich seine Ehefrau und sprach: "Erlaubst du den Rat einer Frau? Mach doch das, was normalerweise die Ärzte tun, die, sobald die althergebrachten Heilmittel keine Fortschritte machen, eine gegensätzliche Therapie ausprobieren. Mit Strenge hast du bis jetzt nichts erreicht; Lepidus hat Salvidienus verfolgt, Murena den Lepidus, Caepio den Murena und Egnatius den Caepio, ganz zu schweigen von den anderen, bei denen es beschämt, dass sie so großes gewagt haben. Nun versuche, wie sich Sanftmut für dich auswirkt. Verzeih L. Cinna. Er ist gefasst worden: dir schaden kann er nicht mehr , aber deinem Ruf nutzen."

09.06.2014