SENECA "EPISTULAE MORALES"

Epistula XXIII

Lieber Lucilius,
glaubst du, daß ich die schreiben werde, wie gelassen es der Winter mit uns getrieben hat, der kurz und mild gewesen ist, wie übel beschaffen der Frühling ist, wie nicht der Jahreszeit gemäß die Kälte und anderes bloßes Geschwätz derer, die nach Worten suchen?Ich aber werde etwas schreiben, was sowohl mir als auch die nützen kann. Was aber wird dieses sein, wenn ich dich nicht zu guter Einstellung ermahne? Du fragst, was die Frucht von diesen ist? daß du dich nicht an nichtigen Dingen erfreust. Ich habe gesagt, daß dies das Fundament ist: nein, es ist der Gipfel. Zum Höchsten gelangt derjenige, der weiß, an welchen Dingen er sich erfreut, der sein Glück nicht in eine fremde Macht gelegt hat; derjenige, den eine gewisse Hoffnung anlockt, ist unruhig und seiner selbst unsicher, mag sie auch zur Hand sein, mag sie auch leicht zu erfüllen sein, mögen
die erhofften Dinge jenen auch niemals betrogen haben.
Mach dies alle vorher, mein Lucilius: lerne, dich zu freuen. Glaubst du nun, daß ich dir viele Genüsse wegnehme, der ich die Geschenke des Zufalls entfernt habe, der ich glaube, daß die Hoffnungen, die süßesten Verlockungen, übergangen werden müssen? Ganz im Gegenteil will ich nicht, daß dir jemals eine Freude fehlt. Ich will aber, daß dir jene im eigenen Haus erwächst: sie wächst, wenn sie bald innerhalb dir selbst geschieht. Andere Freuden erfüllen nicht das Herz; sie glätten das Äußere, sind schön, wenn du nicht zufällig glaubst, das derjenige, er lacht, sich freut: der Geist muß lebhaft und sich vertrauend und über allem anderen errichtet sein.
Glaube mir, wahre Freude ist eine anstrengende Sache. Oder glaubst du etwa, daß jemand mit einer gelösten und, wie die Lüstlinge sprechen, heiteren Miene den Tod geringschätzt, der Armutdas Haus öffnet, die Genüsse unter Zügel hält, das Ertragen des Schmerzes einübt? Derjenige, der dies bei sich bedenkt, ist in großer, aber zu wenig anziehenden Freude. Ich will, daß du in den Besitz dieser Freude gelangst: niemals wird sie untreu, weil du einmal gefunden hast, woher sie geholt wird. Die Frucht unergiebiger Erzgruben liegt an der Erdoberfläche. jene Metalle sind die reichhaltigsten, deren Ader , die sich demjenigen, dar beharrlich gräbt, unerwartet reichlich erschließen wird, in der Tiefe liegt. Diese Dinge, durch die sich das die Masse erfreut, haben leichte und oberflächliche Begierden, und was immer auch die außen herbeigeführte Freude ist, sie entbehrt einen Grund. Ich bitte dich, mein liebster Lucilius, mach, was einen einzigen glücklich erhalten kann: werfe weg und zertrete diese Dinge da, die auf der Außenseite glänzen, die dir von einer Person oder auseiner Angelegenheit versprochen wurden; betrachte das wahre Gute und freue dich an dienen Dingen. Was ist jedoch "an deinen Dingen"? Über dich selbst und den besten Teil deiner. Glaube, daß auch der armselige Körper, auch wenn nichts ohne jenen geschieht, eine mehr notwendige alsgroße Sache darstellt; er liefert leere, kurze Begierden zu bereuen, die ins Gegenteil umschlagen, wenn nicht sie durch Mäßigung gemildert werden. So sage ich es dir: im Höhepunkt neigt sich die Begierde zum Schmerz, wenn sie nicht das Maß hält; das Maß jedoch in diesem, von dem du geglaubt hast, daß es gut ist, zu halten ist schwierig: die Gier auf das wahre gute ist gesichert. Du fragst, was dies sei oder woher dies hergeholt wird? Ich werde es dir sagen: aus einem gutem Gewissen, aus ehrenhaften Überlegungen, aus richtigen Handlungsweisen, aus der Verachtung von Geschenken des Zufalls, aus dem ruhigen und steten Verlauf eines Lebens, das nur einen einzigen Weg beschreitet. Denn jene schwankenden und unsteten, die von den einen Vorsätzen zu den anderen hin- und herspringen oder nicht einmal hinüberspringen, sondern durch einen gewissen
Zufall hinübergeschickt werden, auf welche Art und Weise können sie etwas sicher und in Zukunft bleibend halten?
Wenige sind es, die sich und ihre Dinge mit Nachdenken ordnen; andere gehen nicht, sondern werden getragen nach der Art der Dinge, die auf den Flüssen schwimmen; von diesen erfaßt sie die eine Welle milder und quält sie sanfter, eine andere raubt sie heftiger, die nächste reißende schwungvolle Welle reißt sie ins Meer hinaus. Deswegen muß bestimmt werden, was wir wollen, und auf diesem muß beharrt werden.
Dies ist die Stelle, die Schulden zu bezahlen. Ich kann dir nämlich eine Stimme deines Epikurs zurückgeben und diesen Brief freimachen:" Es ist beschwerlich, immer das Leben zu beginnen", oder wenn der Sinn auf diese Art und Weise eher wiedergegeben werden kann, " diejenigen leben schlecht, die immer wieder das Leben beginnen". "Warum?" fragst du; diese Stimme wünscht nämlich eine Erläuterung. Weil jenen das Leben immer unvollkommen ist; derjenige kann aber nicht bereit zum Tod stehen, der gerade beginnt zu leben. Dafür muß gesorgt werden, daß wir genug gelebt haben: niemand leistet das, der gerade erst das Leben beginnt.
Es besteht kein Grund dazu, daß du glaubst, daß diese wenige seien: fast alle sind es. Manche beginne aber erst dann, wenn man aufhören muß. wenn du urteilst, daß dies erstaunlich ist, will ich hinzufügen , was dich noch mehr wundern wird: manche haben vorher zu leben aufgehört, als sie begannen.

Auch diese Seneca-Übersetzung ist Teil des Seneca-Package, das mir Melanie Christner geschickt hat. Lobeshymne bitte an sie!