PUBLIUS CORNELIUS TACITUS

De Vita Iulii Agricolae (Prooemium)

1. Berühmter Männer Taten und Charakter der Nachwelt zu überliefern, von alters her ein üblicher Vorgang, hat nicht einmal in unseren Zeiten die Zeit, die gegen die ihrigen gleichgültig ist, unterlassen, sooft irgendeine große und berühmte Leistung (oder tüchtige Person) den Fehler, der kleinen und großen Bürgerschaften gemeinsam ist - nämlich die Unkenntnis des richtigen Verhaltens und den Neid- besiegt und übertroffen hat. Wie es aber bei den Vorfahren unbehindert und leicht war, Ehrenwertes zu tun, so wurde jeder ziemlich gefeierte Schriftsteller, um die Erinnerung an die Leistung zu überliefern, ohne Parteilichkeit oder ohne Ehrsucht nur vom Preis eines guten Gewissens geführt. Und sehr viele hielten das Erzählen von ihrem Leben eher für Vertrauen in den Charakter als Einbildung, und dies führte für Rutilius und Scaurus nicht zur Beeinträchtigung ihrer Glaubwürdigkeit oder zur Anfeindung: man hält die Leistungen so sehr genau in den Zeiten für sehr gut, in denen sie am leichtesten entstehen. Doch nun muss ich mich entschuldigen, wenn ich über das Leben eines verstorbenen Menschen erzählen werde, was ich mir nicht erbeten hätte, wenn ich anklagen wollte: so ablehnend und feindlich für die Leistungen sind die Zeiten.

2. Wir lesen, dass, als von Arulenus Rusticus Paetus Thrasea. Von Herennius Senecionus Priscus Helvidus gelobt worden waren, es ein Kapitalverbrechen war und man nicht nur gegen die Schriftsteller selbst, sondern auch gegen deren Bücher wütete, nachdem der Dienst den Triumviren gegeben worden war, nämlich die Werke berühmter Schriftsteller auf dem Versammlungsplatz und dem Forum zu verbrennen. Offenbar meinten sie, dass in jenem Feuer die Stimme des römischen Volkes und die Freiheit des Senats und das Mitwissen der menschlichen Art vernichtet werden, nachdem überdies die Philosophielehrer vertrieben und jedes edle Streben ins Exil getrieben wurden, damit nichts Ehrenhaftes jemals entgegentrete. Wir gaben in der Tat ein großes Beispiel an Langmut; und wie die alte Zeit sah, was das letzte in der Freiheit war, so sehen wir, was in der Knechtschaft ist, nachdem durch die Geheimpolizei auch der Gedankenaustausch weggenommen worden war. Wir hätten auch die Erinnerung selbst zusammen mit der Stimmen verloren, wenn es ebenso in unserer Macht läge zu vergessen wie zu schweigen.

3. Nun endlich ist der Lebensmut zurückgekehrt; und obwohl anfangs sogleich am Beginn der glücklichsten Regierungszeit der Kaiser Nerva die einst unvereinbaren Dinge, nämlich Prinzipat und Freiheit, vermischte, und Nerva Traianus täglich das Glück der Zeiten fördert und die öffentliche Sicherheit nicht nur Gegenstand der Hoffnung und des Wunsches, sondern auch die Kraft das Vertrauen eben dieses Wunsches nimmt, sind dennoch von Natur aus die Heilmittel der menschlichen Schwäche langsamer als die Übel; und wie unsere Körper wachsen und schnell ausgelöscht werden, so dürfte man leichter die Begabung und den Eifer unterdrücken als hervorzurufen; denn auch so schleicht sich die Annehmlichkeit des Nichtstuns selbst ein, und das vorher verhasste Nichtstun wird letztlich liebgewonnen.
cee-al, am 5. 12. 2000