Tacitus' "Annales"

Der Tod des Seneca (15, 60.2-64.3)

[60,2] Der Tod des Annaeus Seneca folgt, sehr erfreulich für den Princeps, nicht weil er erfahren hatte, dass er einer Verschwörung überführt worden war, sondern dass er mit dem Schwert vorgehen könne, weil das Gift nichts genützt hatte. Denn Natalis hatte allein und zwar nur soweit eine Aussage gemacht, dass er zum kranken Seneca geschickt worden sei, um ihn zu besuchen und um zu fragen, warum er dem Piso den Zutritt verweigert habe: Es werde besser sein, wenn sie Freundschaft im vertrauten Umgang üben werden. Und Seneca habe geantwortet, dass Kontakte über Mittelspersonen und häufige Unterredungen keinem nutzten; aber er stützte sein Leben auf die Unversehrtheit des Piso. Gavius Silvanus der Tribun der Prätorianerkohorte wird beauftragt, dies zu überbringen und Seneca auszuforschen, ob er die Aussage des Natalis und seine Antwort kenne. Dieser - zufällig oder wohlwissend - kehrte an diesem Tag aus Campanien zurück und machte beim vierten Meilenstein Rast auf einem vorstädtlichem Landgut. Dorthin kam der Tribun am späten Abend und umgab das Landhaus mit militärischen Einheiten; dann teilte er ihm, der mit seiner Gattin Pompeia Paulina und zwei Freunden speiste, persönlich den Befehl des Kaisers mit.

[61,1]
Seneca antwortete, dass Natalis zu ihm geschickt worden sei und im Namen des Piso Vorwürfe gemacht habe, dass er abgehalten wurde, ihn zu besuchen, und dass er die Rücksicht auf den Gesundheitszustand und das Ruhebedürfnis als Entschuldigung angegeben hatte. Warum solle er das Wohl des Privatmannes seiner Unversehrtheit vorziehen, er habe keinen Grund; und er habe keine Veranlagung bereit für Schmeicheleien zu sein. Und dies sei keinem mehr bekannt als Nero, der öfter den Freimut des Seneca als die Unterwürfigkeit erfahren habe. Sobald dies vom Tribun in Anwesenheit der Poppaea und des Tigellinus berichtet worden war, die der engste Beraterkreis des wütenden Kaisers waren, fragte er, ob Seneca den Freitod bereitete. Dann bestärkte der Tribun, dass er keine Zeichen der Angst und nichts Trauriges in dessen Worten oder in der Miene entdeckte. Also wird er beauftragt, zurückzugehen und den Tod anzukündigen. Dennoch ersparte er sich die Stimme und den Anblick und schickte einen von den Zenturionen zu Seneca hinein, der die äußerste Notwendigkeit ankündigen sollte. (...)

[62,1] Jener, unerschrocken, fordert die Testamentstafeln; und als ihm das der Zenturio verweigerte, verkündigt er als Testament, zu den Freunden gewandt, weil er abgehalten wurde ihren Verdiensten Dank zu erweisen, dass er das, was er nunmehr als einziges und dennoch als schönstes habe, nämlich das Vorbild seines Lebens zurücklasse, und wenn sie dessen eingedenk wären, dann würden sie den Ruf des edlen Strebens als Lohn einer beständigen Freundschaft tragen. Gleichzeitig ruft er, bald im Gespräch, deren Tränen zurück, bald ruft er im Maß eines sich Beherrschenden zur Stärke auf, während er fragte, wo denn die Weisungen der Philosophie, wo denn die über viele Jahre hinweg eingeübte Fassung gegenüber dem Drohenden bleibe? Nach dem Tod der Mutter und des Bruders bleibe nichts anderes übrig, als dass der gewaltsame Tod des Erziehers und Lehrers hinzugefügt werde.


[63,1]
Sobald er dies und solches wie für alle erörtert hatte, umarmt er die Gattin und bittet inständig, ein wenig im Widerspruch zu seiner bisher bewiesenen Stärke, weicher gestimmt, dass sie nicht ewig trauern solle, sondern in der Betrachtung seines integer geführten Lebens die Sehnsucht nach dem Ehemann durch edlen Trost erdulden. Jene erklärte, dass auch gegen sie der Tod bestimmt worden sei, und sie forderte dringend die Hand des Arztes. Dann sagte Se-neca, der ihrer ehrenhaften Haltung nicht entgegenstand, gleichzeitig aus Besorgnis, damit er die einzig von ihm Geliebte nicht bei den Unrechten zurücklasse: "Ich hatte dir die Linderungsmittel des Lebens gezeigt, du willst lieber den ehrenvollen Tod: Nicht will ich ein solches Beispiel verwehren. So möge unser beider Willensstärke bei so mutigem Scheiden gleich sein, ruhmvoller aber sei dein Ende." Danach öffnen sich gleichzeitig die Adern der Arme mit einem Messer. Seneca öffnet, weil aus dem alten und von sparsamer Lebensweise abgemagerten Körper das Blut nur langsam floss, auch die Adern der Unterschenkel und der Kniekehlen: von grausamen Qualen erschöpft, rät er ihr, damit nicht durch seinen Schmerz der Mut der Gattin gebrochen werde und damit er nicht selbst durch den Anblick ihrer Qualen schwach werde, in ein anderes Zimmer zu gehen. Und auch im letzten Augenblick diktierte er, weil die Beredsamkeit zur Verfügung stand, den Schreibern einiges, was ich unterlasse in anderen Worten wiederzugeben, weil es veröffentlicht wurde.

[64,3]
Seneca bat unterdessen, weil die Verzögerung und die Langsamkeit des Todes andauerte, den Statius Annaeus, der ein langjähriger Freund und Arzt war, dass er ihm ein längst bereitgestelltes Gift, mit dem die Verurteilten der Athener durch das öffentliche Urteil umgebracht wurden, reiche; und er trank es vergeblich, denn seine Glieder waren schon erkaltet und der Körper gegen die Wirkung des Giftes verschlossen. Zuletzt betrat er eine Wanne mit warmen Wasser, während er die nächsten der Sklaven mit der Aussage, dass er jene Flüssigkeit dem Befreiergott Juppiter weihe, besprengte. Dann er in ein Dampfbad getragen und dort entseelt, wird er ohne jegliche Begräbnisfeier verbrannt. So hatte er es im Testamentszusatz vorgeschrieben, als er auch damals, sehr reich und mächtig, für sein Ende sorgte.