VERGILS AENEIS

Ankunft in Libyen (1, 159 - 222)

Fern in der Bucht liegt ein Ort: die Insel schafft durch das Hervortreten der beiden Küsten einen (natürlichen) Hafen, an denen sich jede Welle vom hohen Meer bricht und sich und landeinwärtige Buchten spaltet. Links und rechts drohen öde Klippen und zwei Bergspitzen in den Himmel, unter deren Gipfel die Meere weithin ungefährlich schweigen; darüber lag dann, von lichtem Wald umsäumt, ein Platz, und ein dunkler Hain droht mit schrecklichem Schatten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich unter den hängenden Felsen eine Höhle; darin befinden sich süße Wasser und natürliche Sitze aus lebendigem Felsen, die Behausung der Nymphen. Hier halten keine Fessel die ermüdeten Schiffe, kein Anker hält sie mit gekrümmtem Zahn. Hierhin fährt Aeneas, nachdem aus der ganzen Anzahl (von Schiffen) sieben Schiffe gesammelt wurden, und bemächtigen sich nach ihrer Ankunft in brennender Liebe nach festem Boden des erwünschten Sandes und strecken die vor Seewasser triefenden Glieder auf dem Strand von sich. Und zuerst schlägt Achates mit einem Feuerstein Funken und nimmt mit Blättern das Feuer auf, gibt trockene Nahrungsmittel darum und lässt im Zunder eine Flamme auflodern. Dann schaffen sie, müde von den Ereignissen, von den Fluten verdorbenes Getreide und Geräte des Ceres herbei und schicken sich an, die geretteten Früchte in den Flammen zu rösten und am Felsen zu brechen. Aeneas besteigt inzwischen die Bergspitze und strebt einen Gesamtblick weit auf das Meer an, ob er den vom Wind verschlagenen Antheus sieht und die Phrygischen Zweirudrer oder Capys oder die Waffen des Caicus hoch am Heck. Kein Schiff in Sicht, sieht er auf dem Strand drei Hirsche umherirren; ihnen folgen von hinten ganze Herden und eine lang gezogene Schar weidet sich in den Niederungen. Hier stellt er sich hin und ergreift hastig mit der Hand den Bogen und die schnellen Pfeile, die der treue Achates als Wurfgeschosse getragen hatte, und selbst die Führer, die die Häupter mit baumähnlichen Geweihen hoch tragen, streckt er zuerst dahin, dann bringt er das Rudel durcheinander und, indem er sie durch die belaubten Haine mit Wurfgeschossen treibt, die ganze Menge; und er lässt nicht eher ab, bis er -gemäß der Anzahl der Schiffe - siegreich sieben mächtige Körper (von Hirschen) zur Strecke bringt; von hier strebt er auf den Hafen hin und teilt die Beute unter allen Kameraden. Man teilte dann die Weine, die der gute Acestes an der Trinakrischen Küste in Krüge gefüllt und der Held ihnen zum Abschied übergeben hat, schenkt er nun aus, und er tröstet die betrübten Herzen mit folgenden Worten: "O meine Freunde! Im Unglück sind wir bislang ja nicht unerfahren. Schwereres habt ihr alle schon durchgestanden, und auch diesem wird ein Gott ein Ende setzen. Ihr wart der rasenden Skylla so nahe und den aus der Tiefe donnernden Felsschlünden. Die Felsbrocken der Cielopen kennt ihr. Ermannt euch und überwindet eure klägliche Furcht! Später werdet ihr sicher auch daran gern zurückdenken. Durch vielerlei Not, durch zahlreiche Prüfungen verläuft unser Weg nach Latium. Dort gewährt uns das Schicksal, friedlich zu wohnen, dort ist uns vergönnt, dass Trojas Reich neu erstehe. Bleibt standhaft und bewahrt euch für die glücklicheren Zeiten!" So redet er laut, und selbst noch bedrückt von heftigen Sorgen, bemüht er sich, Hoffnung in seinen Blick zu legen, und verschließt seine tiefe Wehmut im Herzen. Die Gefährten machen sich über die Beute her und bereiten die Mahlzeit vor. Sie reißen die Häute von den Rippen und legen das Fleisch bloß. Die einen zerschneiden es und stecken die noch zuckenden Stücke an Spieße. Andere stellen am Strand die Kessel auf und schüren das lodernde Feuer. Dann lassen sie vom Mahl sich wieder zu Kräften bringen. Sie liegen im Gras und sättigen sich an altem Wein und saftigem Wildbret. Sobald sie schmausend ihren Hunger gestillt haben und die Reste des Mahles beiseite geräumt sind, gedenken sie in langem Gespräch der verlorenen Gefährten. Sie schwanken zwischen Hoffnung und Bangen, ob man sie noch am Leben glauben dürfe oder ob sich ihr Schicksal erfüllt habe, so dass kein Ruf mehr sie erreicht. Vor allem betrauert der götterfürchtige Aeneas bei sich bald das Schicksal des tatkräftigen Orontes, bald das des Amycus, das bittere Geschick des Lycus und die tapferen Helden Gyas und Cloanthus.
messy am 5. 12. 2000